← Übersicht

Sehen ist Erinnern! Zu den fotografischen Arbeiten von Manuel Heyer

Wir sehen, was wir kennen, oder mit Elementen in Verbindung bringen können, die wir kennen. Wir sind in unserer Wahrnehmung eingebettet in einen inneren Bilderstrom, sind unserem Kulturgedächtnis verhaftet. Nichts ist neu, sondern allenfalls ausserordentlich im Rahmen seiner Bezüglichkeit. Wir, jeder Einzelne stellt diese Bezüglichkeit Kraft seines Erinnerungsrasters, seines „Wissens“ her.

Es ist dieses Wissen nicht nur unser Filter zur Welt, sondern genauso latenter, sich weitertragender, lernender Weltgeist. Geben wir also nicht vor, neues zu schaffen! Wir bringen hervor, im wörtlichen Sinne, entdecken. Wir sind Mittler in einem Prozess der Deutung, der Zuordnung von Welt, auf ihre imaginäre Substanz. Erst die innere Gestalt, die innere Resonanz, gibt den Erscheinungen des Aussen, Bedeutung und Dimension...

Es ist die Ahnung einer Entsprechung im Imaginären, die das Bedürfnis begründet, eben gerade diese Szenerie, diesen Moment, festhalten zu wollen. Ein uneingelöstes Versprechen. Ich versuche in meinen Arbeiten dieser Ahnung nachzugehen und in einem oft sehr langsamen Prozess, diesen Kern, diese Resonanz zu einem persönlichen, wie auch allgemeinen Bildgedächtnis, frei zu legen, die imaginäre Substanz, auch nur eines Aspektes des Ganzen, aufscheinen zu lassen. Oft ist das ein weiter Weg und oft liegt dieser innere Ort in grosser Ferne zur ersten Gestalt des Bildes.

Manuel Heyer arbeitet seit 1977 sowohl im Bereich der Fotografie wie auch der Cinematografie. Neben Auftragsarbeiten in Fotografie und Film entstand über die Jahre ein Spektrum an freien künstlerischen Arbeiten. Als Kollaborationen mit bildenden Künstlern und Musikern, wie dem Munich Instant Orchestra, Michel Seigner, Alfred Zimmerlin und Peter K Frey von KARL ein KARL, Martin Dessecker, Claudia Rüegg, Ruth Geiersberger, Alex Nüsslein und anderen, entstanden multimediale Projekte, Musik- und Kunstfilme. In seiner langjährigen Arbeit als Kameramann für Spielfilmproduktionen - Director of Photography - ist Manuel Heyer mit der bildnerischen Umsetzung zeitläufiger Erzählungen befasst. Er entwickelt hier die Idee des fotografischen Destillates, der Verdichtung von Zeit- und Wahrnehmungsräumen in ein Bild. Einprägungen einer ins Zeitliche ausgedehnten Aktion, einer atmosphärischen Dichte. So bilden die Pole fotografischer Wahrnehmung - das in die Zeit Wirkende und das aus dem Bild Evozierende, das Spannungsfeld seiner Arbeit.

Ausstellungen

Multimediale Projekte, Kollaborationen, freie Filmarbeiten

Texte zu den Ausstellungen

Von Außen nach Innen und zurück: Geist wird Materie

Zu den Bildern von Manuel Heyer

Die Fotografien von Manuel Heyer kann man sich unter verschiedenen Blickwinkeln ansehen. Wir neigen dazu, Bilder, insbesondere Fotografien, als Abbilder der Realität aufzu- fassen: Bilder „leben“, das heißt, wir setzen sie automatisch in Bezug zu unserer Erfahrungs- welt und sprechen ihnen eine Art von „Authentizität“ zu. Ein solches Verhalten bezeichnen Bildtheoretiker wie W. J. T. Mitchell als magische Praxis und als vormodern. Neben ihrem Inhalt oder Motiv transportieren Bilder als wesentlichen Bestandteil ihrer selbst immer auch Reflexionen über ihren Status als Bild. Der Anteil solcher Reflexionen ist bei den Bildern von Manuel Heyer ziemlich groß. Deshalb geht es hier nicht um Themen wie Wald, Beton, Mauer, Meer oder Stadt, sondern hauptsächlich um die Methode. Dazu nun einige Bemerkungen.

Zum Einstieg, wie heute üblich, ein paar Zahlen (sie stammen vom November 2011, die Tendenz ist steigend):

Vor wenigen Jahrzehnten machte man sich in Europa über japanische Touristen lustig, die in Old Europe alles, was ihnen an historischen Stätten geboten wurde, schnell knipsten und dann wieder heimfuhren: Europe in three days. Nicht das Sehen war wichtig, sondern nur der fotografische Beweis, da gewesen zu sein. Heute, zum Beispiel bei einem Schulkonzert, fotografieren und filmen die Eltern auch hierzulande ihre Sprösslinge bei der Darbietung, was das Zeug hält. Nur wenn es festgehalten ist, ist es auch „real“. Die Welt besteht nur aus dem Bild der Welt, das Leben nur aus dem Bild des Lebens. (Doch wer, um Himmels willen, soll sich die ganzen Aufzeichnungen ansehen? Dazu bräuchte es so etwas wie ein Parallel- Leben; also eines, das gelebt wird, und eines, das reserviert ist für das Ansehen der Auf- zeichnungen des gelebten Lebens.)

Mit der Erfindung der Fotografie war ein Quantensprung in der Wahrnehmung erfolgt. Der vollzog sich in mehreren Schritten, deren erster, grob gesagt, die Zeit von Niepce und Daguerre (also ca. ab 1826) bis zur Erfindung der Kodak-Kamera („You push the button, we do the rest“, 1888) abdeckte. Kodak erschloss die vorher nur Spezialisten zugängliche Technik einem breiten Publikum. Die allerneueste Entwicklung hat nichts mehr mit der klassischen Fotografie zu tun, dafür aber um so mehr mit der – im wörtlichsten Sinne – Ab- Bildung des Gesehenen in Echtzeit: Google Glass. Diese in Entwicklung befindliche Daten- brille hat eine Kamera sowie einen Bildschirm eingebaut und vermischt direkte visuelle Reize mit Informationen aus dem Internet. Mit einem für das Fernsehen und die Werbung schon länger gebräuchlichen Terminus bezeichnet man das Konzept als „augmented reality“, angereicherte Wirklichkeit. Leben, Aufzeichnung und Anreicherung mit Information werden eins, in Echtzeit. Es ist interessant, dass Google-Gründer Larry Page explizit betonte, das Gerät heiße Google Glass, und nicht etwa Google Glasses, wie es oft bezeichnet wird. „It’s only Glass“, so Page, „because it’s only on one side.“ Damit meinte er schlicht, das Gerät befinde sich nur auf einem Brillenglas – es kann übrigens auch auf bereits vorhandene Brillen aufgesteckt werden.

Unbeabsichtigt bringt Page damit auch eine andere Perspektive ins Spiel. Es geht nämlich nicht nur um links oder rechts, sondern mindestens ebenso um innen und außen. Und tatsächlich ist das Gerät sehr einseitig: Es kennt nur das Außen. Die Information aus dem Internet soll, gewissermaßen als kollektiver Speicher, an die Stelle assoziativer Gedächtnis- leistung treten.

Der Philosoph Henri Bergson veröffentlichte 1896 ein Buch namens „Materie und Gedächtnis“. Unter anderem entwickelte er dort eine Therie des Wahrnehmungsbildes. Er geht aus von drei Arten des Bildes:

  1. den reinen Wahrnehmungen, die äußerlich, gewissermaßen objektiv und unpersönlich sind
  2. den Affektionen – Empfindungen –, die von innen, von innerhalb des Körpers kommen
  3. den Erinnerungen, die subjektiv und persönlich sind, dazu rein geistig.

Das Wahrnehmungsbild besteht aus einer Kombination und Überlagerung dieser drei Bild- typen. Nach Bergson kann die Wahrnehmung nicht von der Erinnerung, vom Gedächtnis getrennt werden. Erst das erlaubt uns Erkenntnis. Per se ist Wahrnehmung an den Leib – als Grenze zwischen dem Innen und dem Außen – und an die Erinnerung gebunden. Zukunft – zukünftiges Handeln – ist abhängig von der Materie, die nur als Wahrnehmung, als Bild, in der Gegenwart existiert. Deren Auswahl aus dem gesamten Spektrum der Materie ist durch die Erinnerung bedingt. Diese Zukunft aber ist unbestimmt, nicht prognostizierbar. Der letzte Satz von Bergsons Untersuchung lautet: „Der Geist entnimmt der Materie die Wahrnehmun- gen, aus denen er seine Nahrung zieht, und gibt sie ihr als Bewegung zurück, der er den Stempel seiner Freiheit aufgedrückt hat.“ Diesen Ablauf könnte man auch als „Transit“ – wie eine der Serien von Heyer heißt – bezeichnen.

Vereinfacht ausgedrückt: Wir sehen zwar nur das, was wir kennen, aber es liegt an unserem Geist, etwas neues daraus zu machen. Dieser Geist wiederum ist, nach Bergson, ein Phänomen, das physiologisch – oder, heute, neurobiologisch – nicht nachweisbar ist. Ebenso wie die Erinnerung, die nicht vergleichbar ist mit der Festplatte eines Computers, sondern, viel komplexer, sich aus unterschiedlichsten Komponenten zusammensetzt. Dieses subjektive und vielschichtige Erinnerungsbild erkundet Manuel Heyer. Er wählt aus seinem großen Fundus wenige Bilder aus und verändert sie am Rechner nach seinem, um in der Terminologie zu bleiben, geistigen Auge. Die Materie setzt sich in diesem Fall zusammen aus dem Wahrgenommenen, also dem Motiv – Wald, Mauer, Beton, Landschaft usw. – und dem – im Wortsinne – Material, hier also der Oberfläche, der Bilder. Welche Wirkung diese Bilder auf einen potentiellen Betrachter haben können, das ist wiederum eine ganz andere Sache.

Könnte man ein Google Glass nach der Methode Manuel Heyers konstruieren, nämlich in dem Sinne, dass sämtliche von der Kamera aufgenommenen Bilder diesen geistigen Prozess durchliefen, gewissermaßen als Ersatz für die Anreicherung mit Internet- Informationen, dann würde sich herausstellen, dass die Wahrnehmung scheinbar identischer Bilder individuell äußerst unterschiedlich und, darüber hinaus, nicht prognostizierbar oder projizierbar ist („Leute, die das gesehen haben, haben auch folgendes gesehen...“). Heyer ersetzt den kollektiven Speicher wieder durch das individuell-assoziative Gedächtnis. Schließlich sind fotografische Bilder immer Bilder der Vergangenheit, schon im Zeitpunkt ihrer Aufnahme. „Beim Anblick eines Fotos“, schrieb Roland Barthes in „Die helle Kammer“, „schlägt das Bewusstsein nicht unbedingt den nostalgischen Weg der Erinnerung ein (wie viele Fotos stehen außerhalb der individuellen Zeit), sondern, bei jedem überhaupt auf der Welt existierenden Foto, den Weg der Gewissheit: Das Wesen der Fotografie besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt.“ Man kann die Behauptung, es gäbe so etwas wie das „Wesen der Fotografie“ mit Fug und Recht anzweifeln. Die Bilder von Manuel Heyer gehen den Weg der Erinnerung, ob nun nostalgisch oder nicht. Oft thematisieren sie das Unbestimmte, das Neblige, das mit der Erinnerung verbunden ist. Sie säen Zweifel an der scheinbaren Gewissheit, die uns die Medien, einschließlich der Fotografie, heute vorgaukeln.

Ivo Kranzfelder

Einführungsrede zur Ausstellung „Lichtungen“ von Manuel Heyer Neue Galerie Landshut, 6.9.2016

Es gibt ein paar Phänomene aus der Welt der Physik, die auch Menschen faszinieren, die mit Naturwissenschaften sonst wenig anfangen können. Dazu gehören die sogenannten Schwarzen Löcher. Sie entstehen, wenn in den Weiten des Weltalls ein Stern in sich zusammenbricht. Dann bildet sich an der Stelle, an der der Stern kollabiert ist, ein solches Schwarzes Loch. Das dunkle Nichts saugt alles Licht in seiner Umgebung auf. Und die Planeten, die in unmittelbarer Nähe ihre Bahnen ziehen, verschwinden ebenfalls darin.

Immer dann, wenn etwas im Dunklen liegt, wenn wir den Eindruck haben, dass unter dem Sichtbaren noch etwas verborgen ist, wenn wir ein Phänomen nicht eindeutig einordnen können, beschäftigt es unsere Fantasie besonders intensiv. So geht es auch dem Betrachter, der vor einem Bild von Manuel Heyer steht. Man tritt nahe heran, sieht Lichtstreifen, die Konturen etwa einer Treppe, einer Figur. „Ist da etwas?“, fragt man sich unwillkürlich und geht noch etwas näher heran. Aber das Motiv bleibt im Ungefähren. Und gerade dadurch öffnet sich der Blick für eine andere Dimension im Bild, es öffnet sich ein Denk- und Interpretationsraum. Das Bild atmet. Es versetzt uns in eine spezielle Stimmung, aktiviert eine Erinnerung, der wir noch eine Weile nachhängen. So kommt zwischen einem Kunstwerk und dem Menschen, der es auf sich wirken lässt, eine Dynamik in Gang. Der Schriftsteller Karl Ove Knausgard hat das in seinem Buch „Kämpfen“ sehr poetisch beschrieben.

„Lesen heißt, die Worte als Lichter zu sehen“ schreibt Knausgard. „Sie leuchten in der Dunkelheit, eines nach dem anderen, und Lesen bedeutet, den Lichtern ins Innere zu folgen. Und das, was man sieht, ist niemals unabhängig von dem, der man ist.“

In Knausgards Beispiel geht es um die Literatur, aber der gleiche Prozess findet auch beim Betrachten von Fotografie oder Malerei statt. Man folgt den Lichtern, den optischen Hinweisen, die der Künstler setzt, in sein Inneres und überlässt sich seinen Assoziationen. Wolken spiegeln sich auf einer Wasserfläche, die Silhouette einer Stadt verschmilzt mit dem schwarzen Nachthimmel: Manuel Heyers Bilder bergen ein Geheimnis. Dem Künstler geht es nicht darum, den besonderen Blickwinkel auf ein Motiv zu finden oder den genialen Moment für eine Aufnahme abzupassen. Ziel des künstlerischen Prozesses ist es, die Eindeutigkeit eines Motivs zu brechen, die Essenz eines Moments zu reproduzieren. Erst wenn man sich von der physischen Ebene auf die metaphysische Ebene weiterbewegt, wird es in der Kunst ja richtig interessant. „Um dem Geistigen in der Kunst näherzukommen, wird man so wenig wie möglich von der Realität Gebrauch machen“, hat Piet Mondrian, einer der Pioniere der abstrakten Malerei, in seinen Schriften gefordert.

Auch Manuel Heyer geht es um die geistigen Räume, die sich jenseits des Sichtbaren auftun. Seine Motive findet er zwar in der Natur oder auch in der Stadt – etwa Landschaften, Wolkenhimmel oder Architekturdetails. Diese Motive sind aber nur der Rohstoff, aus dem heraus er seine Arbeiten entwickelt. Auf vielen seiner Bilder befinden die Motive sich im Stadium der Auflösung. Er operiert im Randbereich fotografischer Wahrnehmung, gestaltet die Spuren des Verschwindens seiner Sujets oder den Moment, in dem die Sujets auf der Bildfläche erscheinen.

Es gibt drei Prinzipien, derer sich der Künstler im Arbeitsprozess bedient: die Reduktion, die Verunschärfung und die Anreicherung. Wie raffiniert Manuel Heyer mit dem Prinzip der Reduktion arbeitet, kann man sehr gut an den Landschaftsaufnahmen der Ausstellung beobachten, etwa bei den Bildern der Serie „Das ferne Licht“. Auf der Suche nach einer Art Essenz des Motivs werden die Bilder Schicht für Schicht bis an die Grenze der Erkennbarkeit aufgelöst. Wie ein Forscher nähert der Künstler sich der Frage: Wie wenige visuelle Signale braucht es damit wir eine Landschaft noch als eine solche wahrnehmen? Es ist, wie Sie bei der Betrachtung der Bilder gleich sehen werden, sehr wenig: ein Horizont, der Raum darüber und der Raum darunter.

Das Prinzip der Verunschärfung wirkt etwa in der Serie „Fluchten“, eine Folge von Nachtszenen, wo das Motiv – etwa durch eine Bewegung im Bild – etwas Ungefähres bekommt. Ein ähnlicher, optisch ganz anderer, überraschender Effekt entsteht dadurch, dass Manuel Heyer etwa ein Motiv durch einen Vorhang hindurch fotografiert. Ziel dieser künstlerischen Bearbeitung ist es, eine dichtere Wirklichkeit zu schaffen. Manchmal – wie in der Serie „Moutiers“ – erreicht er diese Verdichtung auch dadurch, dass er ein vorhandenes Bild durch weitere verwandte Elemente anreichert. Was dann passiert, ist erstaunlich: Das Unterbewusstsein übernimmt die Regie über unsere Wahrnehmung. Wir sehen einen grünen Irrgarten, aus dem wir möglicherweise nicht so leicht wieder herausfinden. Wir fühlen uns umstellt von Pflanzen, bei deren Anblick wir nicht ausschließen können ob es nicht vielleicht fleischfressende Pflanzen sind und ob sie ihre Arme nicht bereits nach uns ausstrecken.

Wir befinden uns in einer verdichteten Wirklichkeit. Der Begriff verweist ja schon wörtlich auf eine der bildenden Kunst benachbarte Disziplin: die Dichtung. Manuel Heyer beschäftigt sich auch mit verwandten künstlerischen Ausdrucksformen wie Film, Philosophie oder Literatur. Es gibt einen kleinen Text von Maurice Maeterlick, der mit den Mitteln der Poesie das ausdrückt, was seine Bilder in visueller Form verdeutlichen:

„Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.“

Aus diesem Text spricht, Sie merken es schon, das Unbehagen des Künstlers gegenüber allem allzu Eindeutigen. Ein Unbehagen, das wir heute noch viel intensiver verspüren als die Menschen zu Maeterlincks Zeit. Die Kultur des 21. Jahrhunderts ist ja eine visuelle, pro Tag werden allein auf der Plattform Instagram 80 Millionen Fotos hochgeladen. Wir werden bombardiert von optischen Reizen. Sie hinterlassen in unseren Köpfen eine Art Völlegefühl. Es wächst die Sensucht nach Tiefgründigkeit und Vielschichtigkeit. Und deshalb kommt der Kunst heute eine so große Bedeutung zu. Künstler haben die Fähigkeit, die Welt so zu sehen, wie sie noch nie zuvor gesehen wurde. Sie machen die unsichtbaren Kräfte, die in unserer Welt wirken, sichtbar.

Manuel Heyer ist in Hamburg geboren, arbeitete u. a. als Kameramann und Director of Photographie beim Film. Seit den siebziger Jahren setzt er sich mit Lichtgestaltung, Fotografie und Cinematografie auseinander, er arbeitet als Solokünstler, aber auch gemeinsam mit anderen Künstlern und Musikern an interdisziplinären freien Projekten. Er ist der Neuen Galerie durch lange Zusammenarbeit verbunden, er hat schon 2010 und 2012 seine Arbeiten in diesen Räumen gezeigt.

Die aktuelle Ausstellung mit dem Titel „Lichtungen“ ist eine Retrospektive, die neben älteren Serien wie „Geister" und „Licht" auch neuere Werkzyklen zeigt, etwa die Serien „Sphären“, „Retina“ und „Moutiers“. Die Serie „Retina“ überrascht mit dem ungewöhnlichen runden Format und dem intensiven Rot. Eine Farbe, die die zeichnerische Komponente der in der Serie untersuchten Strukturen noch verstärkt.

Das Material für die Serie „Moutiers“ entstand im Wald Bois de Moutiers in der Normandie. Es sind Bilder, die mit ihrem intensiven Grün und mit ihrem labyrinthischen Charakter einen Sog entfalten, dem man sich schwer entziehen kann. Es entsteht eine Resonanz zwischen Mensch und Natur, die an die Tiefenschichten des Daseins rührt. Aber Achtung: diese verwunschenen Märchenwälder öffnen den Raum für Fantasien aller Art. Sich ihnen auszusetzen, ist mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden. Männer reagieren übrigens besonders sensibel auf diese grünen Selbsterfahrungsräume, in denen man sich wie in einer Traumszene verlieren kann. Manche Männer, hat Manuel Heyer beobachtet, sind vor der Intensität der Bilder geradezu geflohen.

Wie kommt es, dass Kunst so starke Reaktionen bei uns auslösen kann? Auch zu dieser Frage hat Karl Ove Knausgard einige sehr interessante Gedanken formuliert, die ich zum Schluss dieses einführenden Betrachtungen jetzt noch gerne in den Raum stellen möchte. Kunst hat deshalb so eine starke Wirkung, glaubt Knausgard, weil sie eng mit der Religion verwandt ist. Beide, schreibt er, „suchen den äußersten Punkt der Existenz auf, den Tod, vor dessen Hintergrund das Leben leuchtet und plötzlich zu etwas Kostbarem und Unentbehrlichen wird“. Sie schenkt uns ein intensives Gefühl von Sinnfülle.

Manuel Heyers Bilder sind Statements gegen die Entzauberung der Welt. Setzt man sich ihnen aus, passiert etwas Magisches: In geradezu erhabener Wortlosigkeit beginnen Innen und Außen miteinander zu sprechen. Die Bilder der Ausstellung „Lichtungen“ bilden ein Gegengewicht zur Banalität des Alltags. Sie sind eine Hommage an die Schönheit und Rätselhaftigkeit der Welt.

Elke Krüsmann

in Wirklichkeit

„In Wirklichkeit“ lautet der Titel dieser Ausstellung mit Fotografien von Scarlet Berner und Manuel Heyer.

Wenn wir in eine Ausstellung mit Fotografien besuchen, die die Wirklichkeit im Titel trägt, so erwarten wir vermutlich realistische, detailreiche Darstellungen einer Wirklichkeit, die sich uns bis in die letzten Winkel ausleuchtet und mit größtmöglicher Transparenz offenbart. Doch worauf treffen wir hier: Auf großformatige Fotografien von, nun ja, Landschaften auf mattem Papier, die sich weder durch erhellende Tiefenschärfen noch durch glänzende Oberflächen präsentieren; vielmehr zeichnen sie sich aus durch diffundierende Flächen, unterschiedliche Schärfepunkte, Schatten und Spiegelungen, welche weniger glänzen als vielmehr matt schimmern oder eher noch phosphoreszieren.

Auch die Titel geben keine detaillierten Informationen: „Gischt“, „Meer“, „Nebelsee“ oder gar nur „Elemente“ erlauben keine geographische, ja nicht einmal eine topographische Identifizierung, verweisen auf keinen wiederauffindbaren Ort. Und tatsächlich scheinen diese Landschaften, die sich eigentlich nur noch aus dem Zusammentreffen von Wasser und Wolken definieren, diese atmosphärischen Verdichtungen oder nebelhaften Erscheinungen aus fernem, schattigen Grau, wie Erinnerungen, die hinter den matt- weißen Lichtspiegelungen auftauchen wie flüchtige Schatten auf einem durchscheinenden, vom Wind geblähten Segel. Und doch dringen sie wie ein atmosphärischer Klang in den Resonanzraum unseren inneren Bildgedächtnisses und evozieren dort eine beinahe schmerzhafte Verdichtung - so als träfen und verhakten sich beim Vorrücken eines Magazins zwei Diapositive im Lichtschacht und ließen eine Wirklichkeit aufscheinen, die aus dem Zusammentreffen von zwei verschiedenen Bildeindrücken eine neue, dichtere und gleichsam gültigere, sozusagen eine Wirklichkeit zweiter Ordnung entstehen ließe.

Dass dieser Eindruck entstehen kann, liegt tatsächlich an einer vergleichbaren Vorgehensweise des Künstlers, bei der allerdings weniger das zufällige Aufeinandertreffen von gespeicherten Bildeindrücken, als vielmehr der forschende, suchende künstlerische Dialog den Vortrieb des Magazins und das Aufeinandertreffen der Bilder hervorruft.

Ausgangspunkt von Manuel Heyers dialogischen Bildschöpfungen sind Aufnahmen des Künstlers, die teilweise schon in den 70er Jahren entstanden sind, die im Bildarchiv des Künstlers gespeichert waren, und die er dann in den letzten Jahren wieder hervorgeholt hat, um sie mit aktuellen Aufnahmen zu konfrontieren, sie zu befragen, auf Resonanzen zu lauschen, und Aspekte in ihnen wahrzunehmen, die sich erst aus der zeitlichen Distanz heraus vom Motivischen lösen lassen: Das fotografische Ereignis, das Abbild wird dann solange einer Entmaterialisierung unterzogen, mit Mitteln der Verunschärfung, der Verdunklung, der Reduktion, bis das reine Substrat, die Essenz des Bildes oder auch nur eines Aspektes des Ganzen aufscheinen.

Wo dann zunächst vielleicht noch eine Bergsilhouette, ein Wolkengekräusel war und auf eine Ahnung von Landschaft verwies, bleibt am Ende nur noch die Intensität der ausgedünnten Farbe oder des Lichts. Diese Intensitäten, diese Farbigkeiten sind in den Bildern ja ursprünglich schon angelegt, aber sie sind noch verschlossen. Wie in einer Epiphanie öffnen sie sich nur dem langsamen Betrachten. Gerade die Distanz, das Ungreifbare, die mangelnde Taktilität, die diese Bilder dem Betrachter gegenüber einnehmen, provozieren und ermöglichen ein verweilendes Betrachten. Dadurch schaffen sie Nähe, wo die Distanzlosigkeit eine solche vernichten würde. Diese Nähe ist reich an Raum, an Bild-Raum; paradoxerweise ist ihr also zugleich eine Ferne eingeschrieben, die es für den Betrachter auszuhalten gilt.

Dieser „Schmerz der Nähe der Ferne“, wie es Heidegger ausdrückt, wird erlebbar in den Bildern der Reihe „Transit“: Lassen diese zunächst diffuse, wie durch eine Scheibe aufgenommene Ansichten von ephemeren Landschaften erkennen, so führen die Lichtbänder, welche die rechte obere Bildkante schneiden, zurück in einen Innenraum, der trotz seiner angenommenen Bewegung im Blick nach draußen stillzustehen scheint. Diese widersprüchliche Doppelung von innen und außen, Bewegung und Stillstand wird nun durch verschiedene bildnerische Verfahren zugleich verstärkt und aufgelöst. In der Kombination des Positivs mit seinem Negativ, die leicht gegeneinander verschoben werden, erscheint die Essenz des Bildes in einem dunklen Grau, welches aber von einer derartigen Intensität ist, dass das Bild gleichsam von innen her, ohne jede äußere Lichtquelle, zu phosphoreszieren beginnt. Dass es sich dabei auch der Anmutung einer Daguerrotypie nähert, zeigt, dass dieser Realismus, der im Titel steckt, sich immer auch in einer langen und dialogischen Bildtradition stehend versteht und diese auch immer wieder befragt.

Dies trifft in einem ganz besonderen Maße auch auf die fotografischen Arbeiten von Scarlet Berner zu. Wenn wir in den oberen Stock gehen, dann bewegen wir uns gleichsam von der Erde in die Wolken; gleich die erste Fotografie am Treppenaufgang fungiert wie eine Exposition der folgenden Bilder: An den im rechten Winkel zueinander verschränkten Bildrändern ist erkennbar, dass auch Scarlet Berner in ihrer Bildreihe mit dem Titel „Regeneration“ mit kombinatorischen Verfahren ihre Fotografien befragt, verdichtet und akkumuliert. Ein Verfahren, das nicht erwarten lässt, was uns nun begegnet: eine äußerst luftige, offene und atmende Situation, in welcher der von ihr gestaltete Raum einen Teil des künstlerischen Konzepts bildet.

Auch Scarlet Berners Ausgangspunkt sind ältere, bereits vorhandene Bilder, aber nicht eigene, sondern solche, die sie vorfindet, auf die sie stößt, in Katalogen, in Zeitschriften oder im Internet. Dabei können dies aktuelle Bilder ebenso sein wie Bilder, die bereits vor hundert Jahren entstanden sind. Was sie dabei interessiert ist eine ähnliche Suchhaltung, eine gemeinsame Bildtradition, die sich in der Auswahl und der Behandlung der Motive, des Blickpunkts oder des Bildausschnitts manifestiert.

Initialzündung der Reihe „Regeneration“ war eine Fotografie, die sie bei einer ihrer täglichen Touren durch den Englischen Garten machte. Zuhause fiel ihr ein Auktionskatalog mit einer Aufnahme in die Hände, welche eine verblüffend ähnliche Bildschöpfung aufwies. Daraufhin begann sie, mit Hilfe aufwendiger Verfahren, die Reproduktionen fremder, gefundener Fotografien mit eigenen Bildmotiven zu überlagern, zu wiederholen, in einem lauschenden Dialog zu überschreiben. Dabei ist es für sie nicht wesentlich, ob es sich nun um einen bekannten Fotokünstler wie Albert Renger-Patzsch handelt oder um einen Foto-Amateur, dessen Bilder sie befragt; es geht um das Erkunden und Entdecken einer gemeinsamen Tradition des Bildermachens, um das wiederkehrende Aufgreifen von Motiven, von denen man angerührt ist. Seien es nun Wolken, Wasser oder Licht, Geäst oder Pflanzliches, gemeinsam ist die spürbare Zuwendung zum Sujet, welches eine Bedeutung im Leben des Fotografierenden besitzt; so etwa die Aufnahmen des Weinbauern Alfred Kotsch, der alles fotografierte, was mit seiner Arbeit in der Natur zu tun hatte und darin seine Liebe zu allem, was ihn umgab, zum Ausdruck brachte.

Bilder machen wird so verstanden zu einer liebevollen, verweilenden Handlung, die weit entfernt ist von der hyperaktiven und distanzlosen Sichtbarmachung, welche uns täglich affiziert. Indem Scarlet Berner diese anderen Bilder mit ihren eigenen in einem dialogischen Erforschen befragt, nach Verwandtschaften des Blicks sucht und – jenseits aller intellektueller Konzepte – nach ihrem Berührtsein vom Naturerleben, schafft sie einen neuen Imaginationsraum, der diese Bildtradition, in die sie sich stellt, bejaht und zugleich überschreitet. Und dieser Imaginationsraum übersteigt den Raum des Bildes: Wenn sie ein vorgefundenes Negativ und eine eigenes Positiv überlagert, so heben sich deren weißer und schwarzer Bildrand auf und verbinden sich zu einem diffusen Grau, welches sich an die Wände des Galerieraumes ergießt. Dieses Grau wird zum poetischen Projektionsraum für die inneren Bilder des Betrachters, wenn er sich von dem verweilenden Blick der Künstlerin berühren lässt. Dann wird dieses scheinbar langweilige Grau, wie Walter Benjamin schreibt, „ein warmes, graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigsten Seidenmuster ausgeschlagen ist.“ Dieses Seidenmuster ist als Futter einer Wirklichkeit eingenäht, die in ihren Falten das Aufscheinen einer untergründigen Wahrheit bereithält, welches die glänzenden Oberflächen der heutigen Hyper-Transparenz nur suggerieren.

In Wirklichkeit spiegelt eben ein realistisches Kunstwerk nicht einfach die wirkliche Welt wieder, sondern verdeutlicht die Wirklichkeit einer Idee oder einer Vorstellung.

Wie Arabesken wirken die Wolken auf den aktuellen Fotografien der beiden Künstler. Sie sind ein faszinierendes, flüchtiges Element, welches sich ständig erneuert, das sich stets wandelt und doch immer wiederkehrt. Es setzt uns in eine zeitliche Verbindung mit denen, die sie vor uns betrachtet haben, und vermittelt uns eine melancholische Ahnung von steter Erneuerung und Transformation aus der Erinnerung – oder, wie Scarlet Berners Bildreihe titelt: „re-generation“.

Die Arbeiten von Scarlet Berner und Manuel Heyer schaffen in ihrem bildnerischen Echoraum eine spürbare Substanz der Zeit, die uns auf Distanz hält und uns den raschen Genuss versagt. Nach Marcel Proust erscheint die Schönheit einer Sache erst viel später im Licht einer anderen Erinnerung. „Schön ist nicht der augenblickliche Glanz des Spektakels, der unmittelbare Reiz“, sagt der Freiburger Philosoph Byung-Chul Han, „sondern das stille Nachleuchten, die Phosphoreszenz der Zeit. Erst nachträglich enthüllen die Dinge ihre duftende Essenz der Schönheit. Die Schönheit besteht aus den temporalen Schichtungen und Ablagerungen, die phosphoreszieren.“ Insofern ist diese Ausstellung eine wunderbare Befragung und Hervorrufung der Schönheit.

Franz Schneider 2012